Kirche

Ein Beitrag von Henri Bick (Nackenheim)

Katholizismus in Nackenheim

Bis 1933 und mit Abstrichen auch während Zeit des Nationalsozialismus bildete der Katholizismus die zentrale und überwölbende soziale Struktur in Nackenheim. 1933 waren 89% der Nackenheimer katholisch, jeden Sonntag versammelten sich in den Gottesdiensten mehr als 60% der Katholiken.

Die Kirche St. Gereon in Nackenheim auf einer aktuellen Aufnahme, © Alexander Hoernigk
(via Wikimedia Commons)

Es hatte sich ein sogenanntes katholisches Milieu ausgebildet, in dem die Lebenswelt eines großen Teils der Nackenheimer durchdrungen war vom Katholizismus.

  • Viele Kinder gingen in den katholischen Kindergarten, geleitet von Ordensschwestern.
  • Die Schulkinder besuchten geschlossen den Gottesdienst.
  • Viele Erwachsene waren in katholischen Vereinen aktiv.
  • In den Familien und im Gemeindeleben war der Alltag durchsetzt von religiösen Bezügen, Riten und Traditionen.
  • Die katholische Zentrumspartei bekam bei Reichstagswahlen bis einschließlich 1933 stabil etwa 45% der Stimmen.
  • Das Milieu war sozial gefestigt und das Wort des Bischofs und des Pfarrers hatte für viele Menschen enormes Gewicht.
Graphik der Entwicklung der Reichstagswahlergebnisse in Nackenheim, eigene Erstellung (vgl. Klein, Thomas: Die Hessen als Reichstagswähler. Tabellenwerk zur politischen Landeskunde 1867-1933. Bd. 3: Großherzogtum/Volksstaat Hessen 1867-1933. Marburg 1995), siehe auch: LASp, Best. U 199, 91: Protokoll über die Neuzusammensetzung des Gemeinderats vom 25. April 1933.

Kirche und NS-Staat

Der Katholizismus, gerade in seiner Ausformung als Milieu, war dem Nationalsozialismus mit seinem totalitären Machtanspruch von Beginn an ein Dorn im Auge. Ihn als gesellschaftliche Kraft auszuschalten, war jedoch selbst für den diktatorischen NS-Staat nicht ohne Weiteres möglich. Hitler selbst fürchtete, ein zu radikales Vorgehen gegen die Katholische Kirche könnte Widerstand provozieren und die Machtbasis der Nationalsozialisten in Gefahr bringen.

Die Kirche wiederum stand dem Nationalsozialismus schon in der Zeit vor der Machtübernahme größtenteils kritisch bis scharf ablehnend gegenüber, gerade im Bistum Mainz. 1930 hatte der Mainzer Bischof Hugo als erster deutscher Bischof erklärt, kein Katholik dürfe Mitglied in der NSDAP sein. Diese klare Haltung wurde nach dem 30. Januar 1933 zum Problem. Die Kirche und ihre Mitglieder waren den zunächst rechtmäßig ins Amt gelangten neuen Machthabern zum staatsbürgerlichen Gehorsam verpflichtet. Kaum vorstellbar, diesen pauschal zu versagen, zumal viele Katholiken bis in den Kreis der Bischöfe hinein auch Hoffnungen in die neue Regierung setzten und die Nationalsozialisten weniger fürchteten als die Kommunisten. Gleichzeitig stand ihnen angesichts der „Gleichschaltungen“ die Bedrohung durch den NS-Staat vor Augen.

Im Frühjahr und Sommer 1933 lag es daher sowohl im Interesse der Kirche wie auch der Nationalsozialisten, zu einem Arrangement zu kommen. Zunächst räumte die Kirche Ende März nach positiven Signalen Hitlers ihren Unvereinbarkeitsbeschluss, schließlich kam es am 20. Juli nach Verhandlungen zwischen Berlin und dem Heiligen Stuhl zum Abschluss des Reichskonkordats. Der Vertrag verbot Geistlichen die politische Betätigung und bedeutete das Ende des politischen Katholizismus. Gleichzeitig garantierte er der Kirche eine Reihe von Rechten: Die katholischen Vereine und Verbände sowie die Konfessionsschulen durften bestehen bleiben, der Religionsunterricht und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses wurden garantiert.

Ausgehend von diesem Arrangement blieben die Katholische Kirche und auch viele katholische Lokal- und Regionalmilieus während der NS-Zeit institutionell im Kern intakt. Der NS-Staat war jedoch nach Kräften bestrebt, die Garantien des Reichskonkordats auszuhöhlen und ihnen zuwiderzuhandeln, sodass Kirche und gläubige Katholiken mit einer Reihe von Repressionen zu kämpfen hatten. Dabei muss betont werden: Auch viele Katholiken unterstützten den NS-Staat in einem breiten Spektrum. In Nackenheim hatte im März 1933 ein Drittel der Wähler für die NSDAP gestimmt – sie waren zumindest empfänglich für die Verheißungen der Hitlerbewegung. Auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht, nach dem Sieg im Westfeldzug, dürfte die Zustimmung zum „Führer“ wohl noch größer gewesen sein. Gleichzeitig haben sich viele katholische Milieus als verhältnismäßig resilient gegenüber den totalitären Anliegen des NS-Staats gezeigt. Diese kritische Haltung, der Gegensatz der Weltanschauungen, Repressionen und Arrangement zeigen sich auch im Nackenheim der NS-Zeit.

Pfarrer Winkler

Pfarrer Winkler 1958 (Quelle: PfA Nackenheim, Fotosammlung Nr. 4.3.2.9).

Zentrale Figur für das katholische Milieu in Nackenheim war Pfarrer Johann Adam Winkler. Er wurde 1886 in Viernheim geboren und 1908 zum Priester geweiht, seit 1920 war er in Nackenheim Pfarrer und blieb bis zu seinem Tod 1966 im Dorf. Winkler war tief fromm, akribisch und verwendete all seinen Fleiß darauf, möglichst viele der ihm anvertrauten Seelen vor Gott gerecht zu machen und in einem Leben nach den Geboten des Katechismus anzuleiten. Manche fürchteten seine strenge Hand, andere schätzten seine Integrität, viele vielleicht beides. Für den Nationalsozialismus hatte er nach allem, was bekannt ist, nichts übrig. Er setzte alles daran, die Pfarrei so unbeschadet wie möglich durch Krieg und NS-Diktatur zu führen.

Die Pfarrei St. Gereon im Nationalsozialismus

Nach Kriegsende erstattete Pfarrer Winkler auf Anfrage dem Bischöflichen Ordinariat einen ausführlichen Bericht über die Repressionsmaßnahmen.

Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.

Aus diesem Bericht geht hervor, dass Repressionen neben persönlichen Einschüchterungen und Benachteiligungen besonders auf zwei Feldern erfolgten:

  • Zum einen versuchte der NS-Staat, die Kirche von der Erziehung und Bildung auszuschließen – die Maßnahmen betreffen Kindergarten und Schule bis zur Erwachsenenbildung in der katholischen Bücherei.
  • Zum anderen ging es darum, den Katholizismus aus der Öffentlichkeit zurückzudrängen. Schulkreuze und die Rathausmadonna wurden entfernt, gelb-weiß zu flaggen, war an öffentlichen Gebäuden untersagt. Vor allem Prozessionen standen in ihrer Funktion als öffentliche Demonstration des Katholizismus im Fokus der Nationalsozialisten. Auseinandersetzungen aus diesem Anlass sind aus den Jahren 1933 und 1934 überliefert:

Nachdem am 26. April 1933 vier Vertreter der NSDAP in den Gemeinderat eingezogen waren, „mußten wir National­sozialisten doch auch zur Feier des Fronleichnamstages eingeladen werden, was auch huldvoll ge­schah“, so heißt es in einem Zeitungsartikel. Dabei legte Pfarrer Winkler den Nationalso­zialisten jedoch nahe, nicht in Parteiuniform an Gottesdienst und Prozession teilzuneh­men. Daraufhin verzichteten die NSDAP-Män­ner nicht nur auf eine Teilnahme an den Feierlichkeiten, sondern nutzten den Vorfall auch für scharfe persönliche Angriffe auf den Pfarrer in der Zeitung, hier ein Ausschnitt:

Quelle: Zeitungsartikel aus dem Jahr 1933 (DDAMz 52/54, 20f, fol. 288)

Bei der Fronleichnamsprozession 1934 kam es dann zum ersten überlieferten Übergriff in diesem Kontext. Pfarrer Winkler berichtet an das Bischöfliche Ordinariat:

 Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.
Quelle: PfA Nackenheim, Nr. 76.

Diese Schilderungen zeigen zum einen die Auswüchse eines totalitären Systems, dem im Kampf um die Symbole sogar Matrosenanzüge bei Kindergartenkindern anstößig erscheinen. Zum anderen offenbaren sich Beschränktheiten dieses Systems. Erstens präsentiert sich in diesem wie anderen Fällen der NS-Staat nicht als einheitlicher Machtapparat, der koordiniert zur Repression ansetzt, sondern in vielen sich teils widersprechenden Institutionen: Polizei, Bürgermeister, Kreisamt usw. Zweitens wird klar, dass zumindest 1934 eine Atmosphäre herrschte, in der es möglich war, den Befehlen eines Wachtmeisters entgegenzutreten – und dass es Menschen gab, die das auch taten, in einer Situation, in der sie auf Grundlage ihres religiös und traditional orientierten Wertesystems ein Unrecht wahrnahmen.

Religiös konnotierte Riten und Orientierungen besaßen, bis es zu kriegsbedingten Einschränkungen kam, eine gewisse Beharrungskraft. Die Beteiligung an den Gottesdiensten intensivierte sich ab 1933 sogar. Währenddessen versuchten die Nationalsozialisten, dem Katholizismus neue national und germanisch fundierte Riten entgegenzusetzen, etwa ein Sonnwendfeuer, das dem hergebrachten Johannisfeuer Konkurrenz machen sollte. Beim Vorgehen gegen diesen speziellen Nackenheimer Brauch zeigen sich 1937 ebenfalls die Grenzen der NS-Herrschaft vor Ort.

Quelle: LASp, Best. U 199, 36.
Quelle: LASp, Best. U 199, 36.

Die Autorität der örtlichen NS-Führung war, wie Bürgermeister Otto selbst feststellte, „sehr geschädigt“. Sie fühlte sich bisweilen „lächerlich“ gemacht. Beim Versuch, sich durchzusetzen, griff sie daher häufig auf die Autorität übergeordneter Stellen zurück. Hier in Form einer Strafanzeige:

Quelle: LASp, Best. U 199, 20.

In diesen Dokumenten kommt eine Situation zum Ausdruck, in der sich die örtlichen Nationalsozialisten und die Angehörigen des Katholischen Milieus mit Sticheleien und Repressionsmaßnahmen traktierten, aber darüber hinaus zu einer stillschweigenden gegenseitigen Duldung gekommen sind. Während die katholische Seite die nationalsozialistische Regierung im Ort akzeptieren musste, sahen sich die Nationalsozialisten ei­nem gewichtigen Teil der Bevölkerung gegenüber, gegen den sie die Gemeinde schwerlich regieren konnten. Daher schufen sie eine Atmosphäre der Unsicherheit, in der die Verfolgung einzelner als Bedrohung jederzeit im Raum stand und die NS-Herrschaft so absicherte. Zu einem konsequenten Durchgreifen gegen den Katholizismus und seine zentralen Vertreter vor Ort kam es jedoch nicht. Bezeichnend scheint hier auch ein Satz, den ein SS-Mann während des Krieges zu einem Nackenheimer Katholiken gesagt haben soll: „Dich und Deine schwarzen Brüder werden wir nach d. Krieg schon klein kriegen!

Stattdessen blühte nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen am 21. März 1945 das religiöse Leben wieder auf, „das in der Nazi-Zeit viel gehemmt war“, wie Pfarrer Winkler in der Pfarrchronik festhielt.

Quellen:

  • DDAMz 52/54, 20f, fol. 288
  • LASp, Best. U 199, 20
  • LASp, Best. U 199, 36
  • PfA Nackenheim, Nr. 76
  • PfA Nackenheim, Fotosammlung Nr. 4.3.2.9.

Weiterführende Literaturhinweise:

  • Bick, Henri: Zwischen Kampf und Arrangement. Die katholische Pfarrgemeinde Nacken­heim und die Nationalsozialisten. Unveröffentlichte Seminararbeit 2013.
  • Klein, Thomas: Die Hessen als Reichstagswähler. Tabellenwerk zur politischen Landeskunde 1867-1933. Bd. 3: Großherzogtum/Volksstaat Hessen 1867-1933. Marburg 1995.
  • Kösters, Christoph: Katholisches Milieu und Nationalsozialismus. In: Hummel, Karl- Joseph/Kißener, Michael (Hrsg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Paderborn, 2. Aufl. 2010, S. 145-165.
  • Kuropka, Joachim (Hrsg.): Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefähr­dung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Münster 2013.