Das Gauturnfest in Nackenheim im Juli 1933 und
seine Vorgeschichte im Spiegel der Lokalpresse
Ein Beitrag von Franziska Kaiser (Studierende der JGU Mainz)
„Was ist Osthofen? Erziehungslager oder Straflager?“
„Besucht das 53. Gauturnfest im schönen Rhein- und Weinort Nackenheim, vom 1. bis 3. Juli 1933“
In der Ausgabe der Oppenheimer Landskrone vom 30. Juni 1933 finden sich auf derselben Zeitungsseite zwei Artikel mit den obenstehenden Überschriften. Auch wenn diese beiden Artikel nicht in direktem Zusammenhang zueinanderstehen, veranschaulichen sie doch auf sehr prägnante Weise, in welchem gesellschaftlichen Klima das 53. Gauturnfest in Nackenheim vom 1. bis zum 3. Juli 1933 stattgefunden hat. Die Lokalpresse hatte seit Oktober 1932 immer wieder die Vorbereitungen des Gauturnfestes rezipiert und die Veranstaltung beworben. Verschiedene Zeitungsartikel bezeugen dies und können in Verbindung mit anderen Nackenheimer Lokalereignissen, wie zum Beispiel den „Inschutzhaftnahmen“ von Nackenheimern im Konzentrationslager Osthofen in den historischen Kontext der regionalen „Gleichschaltungsmaßnahmen“ und somit der Etablierung und Stabilisierung der NS-Diktatur vor Ort eingeordnet werden. Darüber hinaus zeigt die regionale (Sport-) berichterstattung die nationalsozialistischen Umgestaltungsmaßnahmen in der deutschen Sport- und Presselandschaft. Besonders augenscheinlich wird hierbei neben der Neuorganisation des (rheinhessischen) Sports die inklusive Kraft solcher Sportereignisse im Hinblick auf eine angestrebte Verwirklichung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft im Sport.
„Nackenheim rüstet sich! Durch Freiwilligen Arbeitsdienst entsteht ein neuer, vorbildlicher Turnplatz.“
Bereits im Oktober 1932 titelte die Landskrone mit dieser Schlagzeile. Im zugehörigen Artikel wurde bereits die Bedeutung des rheinhessischen Turnfests in Nackenheim im Hinblick auf das im Juli 1933 stattfindende Deutsche Turnfest in Stuttgart hervorgehoben. Weiterhin wurde betont, dass der Bau des Sportplatzes, den der Turnverein auf eigene Kosten auf dem von der Gemeinde zur Verfügung gestellten Gelände im „Brühl“ durchführte, „einer Anzahl erwerbsloser junger Menschen für die Dauer der Ausführungen Beschäftigung und Verdienst“ (Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 24.10.1932) biete. Diese lokale Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wurde auch in später erschienenen Artikeln immer wieder gelobt und dem Turnverein hoch angerechnet, schließlich ließ sie sich von der Parteipresse für den kleinen Raum in Analogie zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der erstrebten Senkung der Arbeitslosigkeit setzen. Mit dieser Umdeutung beförderte der Turnverein also schon bevor die NSDAP faktisch regierte deren Ziele – ein einfaches Narrativ.
In einem Artikel vom 11. März 1933 wurde der Arbeitsplan des 5. Gaues Rheinhessen für 1933 der Deutschen Turnerschaft vorgestellt. Das Gauturnfest in Nackenheim war als fester Termin gesetzt, im Mai 1933 wurden in einem weiteren Artikel die genauen Programmpunkte der einzelnen Festtage vorgestellt.
Mainzer Anzeiger, 28. März 1933:
„10 Grundsätze für die hessische Pressepolitik“
Wesentliche Grundlage für eine Umgestaltung der Presse nach nationalsozialistischen Vorstellungen stellte die am 4. Februar 1933 erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“, die sogenannte „Pressenotverordnung“ dar. Diese Verordnung hob die Pressefreiheit sowie das Versammlungsrecht auf und vereinfachte das Verbot von politisch „unliebsamen“ Zeitungen enorm. Die kurz darauf erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“, verschärfte diese Maßnahmen, indem sie die allgemeine Aufhebung der Grundrechte legitimierte. In einem Artikel des Mainzer Anzeigers vom 28. März 1933 („Hessische Regierung und Presse“) wurden die Grundsätze der hessischen Pressepolitik, „nach denen zukünftig die politische und kulturpolitische Arbeit der hessischen Presse geleistet werden soll“ (Mainzer Anzeiger. Ausgabe vom 28.03.1933) von Staatspräsident Dr. Werner ausgeführt, denn „auch die Presse müsse am Neuaufbau des Vaterlandes mitwirken.“ (Mainzer Anzeiger. Ausgabe vom 28.03.1933). Die im Artikel ebenfalls formulierten 10 Grundsätze für die hessische Pressepolitik veranschaulichten die künftige Marschrichtung der hessischen Presse:
„[…] 2. Grundlage für Form und Inhalt aller Zeitungen ist die geschichtliche Tatsache der völkischen Revolution und der Sieg der nationalsozialistischen Idee.
3. Pressefreiheit heißt: Freiheit aller guten, aufbauenden, aber rücksichtslose Vernichtung aller im völkischen Sinne zerstörenden Kräfte. […]
6. Die Presse soll nicht nur Spiegelbild, sondern auch Bildnerin der öffentlichen Meinung sein! Damit fallen ihr verantwortungsvolle, wichtige Erziehungsaufgaben zu.
7. Ehrensache der deutschen, hessischen Presse ist es, im Nachrichten-, Unterhaltungs- und Anzeigenteil fremdrassige, internationale, jüdische Einflüsse auszuschalten. […]“
Mainzer Anzeiger. Ausgabe vom 28.03.1933
Die Presse als „Großmacht“, derer man sich bedienen wollte, sollte wesentlich die Bildung der öffentlichen Meinung im nationalsozialistischen Sinne vorantreiben und somit „Erziehung am Volk“ leisten. Die Indoktrination der ideologischen Kernaspekte eines totalitären Menschenbildes und des Gedankens der Volksgemeinschaft spiegelte sich in den konkreten Ausführungen, so auch zur Sportberichterstattung, wider:
„So sei es ratsam, in Zukunft die übergroßen Sportberichte zu kürzen, um hierfür Platz für einen viel notwendigeren nationalen Text zu schaffen. […]. Die Auffassung, die bisher vom deutschen Sport geherrscht hat, wird von uns ausgerottet werden. Es kommt nicht auf Rekorde und Ligatabellen an, sondern auf die allgemeine Volksertüchtigung. Es ist nicht notwendig, daß ein Deutscher einen Rekordlauf von 13,4 Sekunden macht, sondern daß 100 Deutsche in 16 Sekunden 100 Meter laufen.“
Mainzer Anzeiger. Ausgabe vom 28.03.1933
Auch in den Zeitungsberichten zum Gauturnfest in Nackenheim manifestierte sich diese Einsparung von wettkampfbezogenen Fakten oder Ergebnissen zugunsten von ideologischen Abhandlungen mit starkem nationalistischem Fokus und völkischen Elementen äußerst offensichtlich (siehe unten). Zeitungen, die diesen Grundsätzen nicht gerecht wurden oder politische Tendenzen abseits des Nationalsozialismus erkennen ließen, fielen der Pressezensur zum Opfer. So musste auch die Redaktion der „Turn-Zeitung für Rheinhessen“ Ende 1933 ihren Betrieb einstellen, was sich der Verbandshistorie des Rheinhessischen Turnerbundes entnehmen lässt.(https://www.rhtb.de/rhtb-bewegt/verbandsstruktur/historie)
Die Hauptausschusssitzung der Deutschen Turnerschaft vom 08. April 1933:
„Wehrhaftigkeit als Ziel turnerischer Arbeit“
Auf der Hauptausschusssitzung der Deutschen Turnerschaft in Stuttgart hatten deren führende Kräfte am 08. April 1933 grundlegende Änderungen der Deutschen Turnsatzung beschlossen. Hierzu zählten u.a. die Einführung des „Arier-Paragraphen“ („vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Turntages“) sowie die Wehrhaftigkeit als oberstes Ziel aller Turnenden. Die körperliche Ertüchtigung und Leibeserziehung der „Volksgenoss:innen“ sollte vordergründig zu militärischen Zwecken erfolgen, was sich auch in der Sport- und Presserhetorik widerspiegelte, in der i.d.R. von „Kämpfen“ gesprochen wurde. Der angestrebte Umbau des deutschen Sports diente der Konstruktion einer „wahren Volksgemeinschaft auch auf dem Boden des Sports.“ (Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 29.04.1933). Die Durchsetzung des Arierparagraphens im deutschen Sport hatte den reichsweiten Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Sportvereinen ab 1933 zur Folge und verdeutlicht den Exklusionsgedanken im Sportwesen. Die Landskrone berichtet im hier betrachteten Zeitraum bezüglich Nackenheim nicht von derartigen Ausschlüssen, was jedoch nicht bedeutet, dass solche Prozesse nicht dennoch stattgefunden haben könnten. Aus Zeitzeugenaussagen ist beispielsweise bekannt, dass Heinrich Wolff, der jüdisch und einer der ersten Förderer und eines der ersten Mitglieder im Turnverein war, in den 1930er Jahren aus dem Verein ausgetreten ist, beziehungsweise austreten musste. Der genaue Zeitpunkt ist leider nicht bekannt.
Oppenheimer Landskrone vom 30. März 1933:
„1. – 3. Juli Gauturnfest in Nackenheim. Von einer Weinbergsmauer der „Kupel“ leuchtet seit einiger Zeit obige Schrift“
Die Werbung für das Nackenheimer Gauturnfest war bereits in vollem Gange, wie der Zeitungsartikel vom 30. März bestätigt. Neben 156 Plakaten, die den rheinhessischen Turnvereinen zugestellt werden sollten, wurde vor Ort in ganz besonderem Maße auf die Festivitäten hingewiesen:
„Jeder Reisende wird unwillkürlich auf die ca. 1,5m hohen Buchstaben aufmerksam gemacht, ob er mit der Bahn, dem Auto oder per Schiff an Nackenheim vorüberfährt. Auf weißem Grunde, die Buchstaben in roter und schwarzer Farbe geschrieben, ergibt das Ganze eine gute Wirkung.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 30.03.1933.
Wenn auch dieser Artikel das Gauturnfest noch nicht offensichtlich als Gelegenheit ausschrieb, durch den Sport NS-ideologische „Volkserziehung“ zu leisten, so schlug die Betonung der Farbwahl schwarz, weiß, rot dennoch genau diese Richtung ein. Die Rhetorik sollte sich in den Folgemonaten deutlich verschärfen. Auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen am Sportplatz wurden, ebenso wie die Vorbereitung auf das Deutsche Turnfest in Stuttgart und das anlässlich des Gauturnfestes geplante große Jugendtreffen in Nackenheim – wenn auch subtil – ausdrücklich betont.
Oppenheimer Landskrone vom 27. April 1933:
„Der neue Gemeinderat“
In diesem Artikel wurde der neue Nackenheimer Gemeinderat vorgestellt, darunter u.a. Adam Peter Sans für die NSDAP, der in der Vereinsrezeption der TuS Nackenheim besonders hervorsticht. In der Festschrift der TuS zum 100-jährigen Bestehen aus dem Jahr 2006 wird betont, dass Sans als „überzeugter Turner […] vaterländisch national eingestellt“ war und „lange vor 1933 mit gutgläubigen Erwartungen in die NSDAP eintrat und damit erstes Nackenheimer NS-Parteimitglied wurde.“ Man hebt besonders seine Charakterstärke hervor, 1933 wieder aus der Partei ausgetreten zu sein, weil diese „geje die Kersch und geje die Turner“ gewesen sei sowie seine Verdienste um die Bewahrung der Vereinsfahne, die in Verbindung mit verschiedenen Zeitzeugenerinnerungen stehen. Er sei zudem zwei Mal von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen worden. (100 Jahre TuS 06 Nackenheim, 2006, S.140f.). Dieses Beispiel kann durchaus die ideologischen Brücken zwischen Turnerschaft und Nationalsozialismus veranschaulichen, die entweder von Turner:innen bereitwillig geschlagen und öffentlich befürwortet oder in stillem Einvernehmen oder Widerspruch hingenommen wurden.
Am 29. April 1933 wurde in der Landskrone dann die Festzugsordnung zur Feier des Tages der nationalen Arbeit bekannt gegeben: An den Radsportverein reihten sich Musik, die NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation), der Kriegerverein, der Männergesangverein, der Sportverein, der Gesangverein „Cäcilia“, der Gesangverein „Frohsinn“, Musik, der Turnverein, Schulkinder, die Beamtenschaft, Eisenbahner, Post- und Finanzbeamte, Musik, HJ, SA und „NSDAP-Parteigenossen“. Eine Festlichkeit unter nationalsozialistischem Banner, die in alle Bereiche des Gemeindelebens vordrang.
Oppenheimer Landskrone vom 08. Mai 1933:
„Kein Führerwechsel im Gau Rheinhessen. Die Amtsverwaltertagung in Nackenheim“
Am 06. Mai 1933 fand in Nackenheim die Gauausschusssitzung des Turngaus Rheinhessen statt, die federführend von Willli Bieger geleitet wurde. Dieser hatte bereits im März die Nachfolge von C. Schill angetreten, der „aus gesundheitlichen Gründen und Alters-Rücksichten“ (zit. n. Braun, Rheinhessen, S.67) sein Amt aufgegeben hatte. Bieger wurde in der Berichterstattung zur Tagung als äußerst führungskompetent dargestellt:
„Der Führer, in diesem Falle Gauvertreter Bieger, bestimmte, und alle gehorchten. […] Die ganze, gegen sonst also wesentliche verkürzte Tagung stand im Zeichen unseres geeinten nationalen Deutschland. Es war mehr als eine der sonst üblichen Zusammenkünfte, es war eine Feierstunde, erfüllt von Jahnschem, deutschem Geiste“.
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 08.05.1933.
Offensichtlich ist also, dass die Vorbereitung und Durchführung des Nackenheimer Gauturnfestes in die Zeit fiel, in der die durch die „Reichstagsbrandverordnung“ legitimierte „Schutzhaft“ das gängige Mittel zur Verfolgung regimekritischer oder politisch Andersdenkender darstellte – Inhaftierungen, die ohne juristische Verurteilung und bereits bei geringsten „Verfehlungen“ vollzogen wurden. Das zeigt auch ein Artikel vom 03. Mai:
„Nackenheim. […] Wegen Beschimpfung der SA in Haft. In der Nacht von Montag auf Dienstag wurde in Nackenheim Gg. Schäfer […] in Schutzhaft genommen, der in Lokalen die SA und SS in böswilliger Art und Weise beschimpfte und herabwürdigte. Für die Nacht kam er in Polizeigewahrsam und am frühen Morgen mittels Autotransport nach Osthofen in das Konzentrationslager.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 03.05.1933.
Die Meinungsfreiheit war zu diesem Zeitpunkt – offensichtlich – aufgehoben.
Oppenheimer Landskrone vom 09. Juni 1933:
„Im Geiste Jahns vorwärts für Deutschland! Gut Heil Hitler! Carl Wagner, Werbe- und Pressewart 4. Gau Rheinhessen“
Oppenheimer Landskrone vom 30. Juni 1933:
„Kommt zahlreich zum Feste! […] Herzlich Gut Heil!
Tv. Nackenheim“
Die Schlussformel des Artikels vom 09. Juni 1933 beschloss eine vorangehende Lobrede auf die Funktion der Turnfeste und Turner:innen „im Dienste der Volksertüchtigung und ihrer treudeutschen Gesinnung zu Volk und Vaterland.“ (Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 09.06.1933). In diesem Artikel wurde das Gauturnfest in Nackenheim erstmals vollständig propagandistisch und offensichtlich in die ideologischen Ziele der NSDAP eingegliedert. Sportliche Informationen zum Fest traten hinter historischen Analogien und Instrumentalisierungen vollständig in den Hintergrund:
„25 000 Mitglieder annähernd vereinigen sich heute unter dem Banner des Turngaues Rheinhessen, dem sie durch Freud und Leid nachgefolgt sind. Das 53. Gauturnfest wird eine besondere Stellung in der Turngeschichte des Rheinhessengaues darstellen. Darf das 50. Gauturnfest in Flonheim als das Gauturnfest im Jahre der Rheinlandbefreiung angesehen werden – wer entsinnt sich nicht noch der herrlichen Feierstunde vor der Kirche in Flonheim – so steht das 53. Gauturnfest in Nackenheim im Zeichen des neuen Deutschlands(?), im Zeichen der nationalen Erhebung. Es werden Stunden aufbrausender vaterländischer Begeisterung sein. Wenn die letzten Strophen des Deutschland- und Horst Wessel-Liedes verklungen sein werden, dann wird auch das erste Gauturnfest des 5. Gaues Rheinhessen im Dritten Reich der Vergangenheit angehören. Aus ihm erwächst aber gleichzeitig für die nachfolgenden Tage eine Frohstimmung: Die Vorfreude auf das wenige Wochen später stattfindende 15. Deutsche Turnfest in Stuttgart, das einer der ganz großen Augenblicke turnerischen Erlebens werden wird, die es für Jünger Jahns überhaupt geben kann.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 09.06.1933.
Der Artikel blickt zunächst auf das 50. Gauturnfest in Flonheim im Jahre 1930 zurück, das als historisches Ereignis im Rahmen der Beendigung der Rheinlandbesetzung und unter anderem auch von der NSDAP häufig für politische Propagandazwecke genutzt wurde. Die französische Besatzung des Rheinlandes wurde von der örtlichen Bevölkerung überwiegend als „Schmach“ empfunden, die Beendigung der Besatzung im Juni 1930 wurde als „Befreiung“ gefeiert. Jenes Sportereignis wird aufgegriffen, um das bevorstehende erste rheinhessische Gauturnfest im „Dritten Reich“ auf eine ähnliche, wenn nicht noch scheinbar bedeutungsvollere Stufe für die „Freiheit der rheinhessischen Bevölkerung“ zu heben – eine vielversprechende Propagandastrategie. Zudem war die zeitliche Nähe des Gauturnfestes in Nackenheim zum großen Deutschen Turnfest in Stuttgart eine willkommene Gelegenheit, die Turner:innen zu erinnern, den im kleinen Raum gebündelten „vaterländischen und nationalen Geist“ der rheinhessischen Sportler:innen über die regionalen Grenzen hinaus in die ganze Nation zu tragen. Offensichtlich ging es zunehmend weniger um den Sport als solches, sondern um die politische Position, die Turner:innen mit den Turnidealen verkörpern (sollten). Diese Entwicklung zeigte sich auch in der nationalsozialistischen Rezeptionsstrategie Friedrich Ludwig Jahns, der als „Turnvater“ im Nationalsozialismus an Bedeutung verlor und dem vielmehr – aufgrund ideeller Überschneidungen – als „völkischer Staatsmann“ und „Volkserzieher“ gehuldigt wurde. So wurde die Turnerschaft, die sich vielfach auf Jahn als Gründervater berief, auch ideengeschichtlich in die NS-Ideologie eingegliedert. Die Bedeutung Jahns im Turnkontext zeigte sich nicht nur in diesem offensichtlich propagandistischen Artikel, sondern auch in einem Artikel vom 30. Juni 1933, in dem der Turnverein Nackenheim zum Gauturnfest einlädt:
„Nackenheim hat alles auf das beste vorbereitet; hier herrscht echter Jahn’scher Geist, durch welchen wir in des Vaterlandes schwerster Zeit die Kraft fanden, der Deutschen Turnerschaft eine Heimstätte zu errichten.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 30. Juni 1933.
Auffällig ist, dass dieser Artikel lediglich mit dem traditionellen Turnerspruch „Gut Heil!“ gezeichnet ist – im Gegensatz zum Artikel vom 9. Juni – der den Turnergruß mit dem deutschen Gruß fusioniert: „Gut Heil Hitler“. Man könnte dies vorsichtig als einen Versuch des Vereins interpretieren, die sportlichen Ziele des Gauturnfestes und die Bedeutung für das Vereinsleben in den Vordergrund zu rücken. Weiterhin sei außerdem erwähnt, dass das Gauturnfest neben aller politischer Wirkung für die Gemeinde in jedem Fall auch einen Prestigefaktor verkörperte, sowohl in wirtschaftlicher wie in touristischer Hinsicht.
Wie bereits eingangs beschrieben, findet sich auf derselben Seite der Artikel „Was ist Osthofen? Erziehungslager oder Straflager?“, der veranschaulichen sollte, dass Osthofen mit politischen Häftlingen, die aus nationalsozialistischer Perspektive „angemessen“ bestraft werden mussten, nicht zu mild umging, eben aber auch nicht zu hart. Der Artikel wartet mit Stellungnahmen ehemaliger politischer Häftlinge auf, die sich der Lagerleitung als vermeintlich „äußerst dankbar“ erwiesen, durch die „Umerziehungshaft“ auf den „rechten“ Weg gebracht worden zu sein. Das Fazit lautete:
„Das ist Osthofen und sein Lagerleiter d’Angelo – bestes nationalsozialistisches Führertum, das allein die innere Wandlung unsers Volkes erzwingen kann!“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 30.06.1933.
Die Festtage
Der Festschrift der TuS Nackenheim zum 100-jährigen Bestehen 2006 zufolge haben an dem dreitägigen Fest mehrere tausend Menschen teilgenommen, davon rund 300 Turnerinnen und 500 Turner an den Einzelwettkämpfen und 270 Musterriegenturner an den Gruppenwettkämpfen, zusätzlich „einige tausend Besucher“. (100 Jahre TuS Nackenheim, 2006, S.45). Die Landskrone berichtet zudem für den Montag von einem Treffen von 2000 Schulkindern in über 600 Wettkämpfen. (Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 06.07.1933).
Oppenheimer Landskrone vom 01. Juli 1933:
„Große Tage! Morgen wird Nackenheim ganz im Zeichen der Turner stehen, ganz im Zeichen vielseitiger und wechselvoller Wettkämpfe“
In diesem Artikel wurde erneut zum Besuch des Gauturnfestes in Nackenheim, anlässlich dessen sogar Sonderzüge verkehrten, aufgerufen. Hier ist auffallend, dass die Formulierungen weitestgehend neutral und nicht politisch oder ideologisch aufgeladen waren, sondern das Fest als „Fest der Turnsache“ ankündigten. Das scheint jedoch der letzte Artikel dieser Art gewesen zu sein. Die gesamte folgende Berichterstattung stellte das Turnfest in den Dienst der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die verheißungsvolle Zukunft des „Dritten Reiches“ unter Führung Adolf Hitlers und die bedingungslose Treue der Bevölkerung zu Ideologie und Vaterland. Das zeigen folgende Ausschnitte:
Oppenheimer Landskrone vom 03. Juli 1933:
„Man sah zum Schluß Turnersturmfahne, Hakenkreuz- und Schwarz-Weiß-Rote Fahne sich überkreuzen. Eine symbolhafte Handlung […]“
„Samstag abend begann das Fest mit der Ueberführung des Gau-Banners von Mainz-Kostheim […] nach Nackenheim. Der Gesangverein „Frohsinn“ leitete die Feier mit dem Chor „Die Himmelrühmen des Ewigen Ehre“ ein. Bürgermeister Sans übernahm die Fahne in treue Obhut. Der Verein werde sich eine Ehre daraus machen, das Banner des Gaues Rheinhessen in Stuttgart mitführen zu dürfen. Deutschland- und Horst-Wessellied schlossen den feierlichen Akt.
Abends im Festzelt drängten sich die Gäste […] Dr. Mayer sprach anschließend über die Umgestaltung der Daseinsformen im deutschen Vaterlande im Interesse der Volksgemeinschaft. Bei der leistenden Aufbauarbeit dürfe keiner beiseite stehen. Alles müsse mitarbeiten an dem rhythmischen Gleichklang, der unsere Zeit zu einer neuen Zeit werden ließ. Die DT. habe sich verantwortungsbewusst in den Dienst von Volk und Staat gestellt. Davon solle auch das Nackenheimer Fest Zeugnis ablegen. Der Redner schloß mit einem dreifachen „Sieg Heil“ auf Reichspräsident von Hindenburg und Reichskanzler Hitler. Anschließend an die Rede wurden das Deutschland- und das Horst-Wessellied gesungen.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 03. Juli 1933
Bezirksführer Bieger ergriff daraufhin das Wort und erklärte, dass „Führerprinzip, Ariergrundsatz und Wehrturnen“ die neuen Gesichtspunkte seien, unter denen die Deutsche Turnerschaft in gemeinsamer Front mit SA, SS und Stahlhelm am Vaterland mitarbeite. In der darauffolgenden Rede von Ministerpräsident Prof. Dr. Werner, „der bei seinem Eintreten in das Zelt mit Heilrufen begrüßt wurde“ griff Bieger wiederum das Freiheitsmotiv im Zusammenhang mit der französischen Besatzung sowie Jahn als Leitfigur auf:
„Es war mir trotz einer Reihe großer Veranstaltungen im Lande ein Bedürfnis, nach hier zu kommen, um meiner Verbundenheit auch mit den rheinhessischen Weinorten Ausdruck zu geben. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß dieses gesegnete Land ganz frei werde, frei von der entmilitarisierten Zone links und rechts des Rheines, daß wir wieder volle Justiz- und Verkehrshoheit bekommen über unsern großen deutschen Strom, daß wir in ganz Deutschland den Rhein wieder als den deutschen Strom empfinden. Noch wehen die französischen Fahnen an den Schiffen […] Würde Jahn heute noch leben, er stünde in unseren Reihen; denn er war ein Vorkämpfer völkischer Freiheit.
[…] Er [Bieger] dankte für für die Anerkennung, die Staatspräsident Werner der Arbeit der DT. zollte, und gab die Versicherung ab, daß die Turner sich freudig hinter Adolf Hitler stellten und treu mit ihm den Weg gingen in eine bessere Zukunft unseres Vaterlandes. In vier Wochen stünden auch die Rheinhessen in Stuttgart, als Glied der 500 000, die dort zusammenkämen, als Mitwirkende an den Freiübungen der 70 000. […]“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 03. Juli 1933
Dieser Ausblick zeigt eindeutig die Ausrichtung auf das Deutsche Turnfest in Stuttgart als nächstes, deutlich größeres sportpolitisches Ereignis, in das alle noch so kleinen Vereine vor Ort im Sinne der Volksgemeinschaft eingegliedert werden sollten, um die deutsche Einheit im „Dritten Reich“ zu symbolisieren.
Auch der Mainzer Anzeiger veröffentlichte einen Artikel zum Nackenheimer Gauturnfest, der sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich weitestgehend mit dem der Landskrone deckt. Kurz informierten beide Zeitungen in gesonderten Artikeln auch über die Ergebnisse der Wettkämpfe.
Die personelle Situation im Turnverein soll an dieser Stelle, nicht zuletzt wegen der lückenhaften Quellenlage, nicht ausgeführt werden. Es sei angemerkt, dass die TuS ebenfalls in der Festschrift von 2006 über personelle Schwierigkeiten im Vorfeld des Turnfestes informierte, da die Kreisleitung der NSDAP Oppenheim den vorgeschlagenen Vorstand nicht bestätigte. Der dann von der Partei bestimmte „Vereinsführer“ bestimmte weitestgehend die vorherigen Vorstandsmitglieder als seine Mitglieder, sicherlich auch, um eine reibungslose Durchführung des Gauturnfestes zu gewährleisten.
Oppenheimer Landskrone vom 03. Juli 1933:
„Wieder nach Osthofen“
Parallel zum Gauturnfest informierte die Landskrone über zwei weitere „Inschutzhaftnahmen“ von Nackenheimern und betonte den „(Um-)erziehungscharakter“ des Konzentrationslagers Osthofen. In anderen Regionen zeigt sich außerdem, dass „Inschutzhaftnahmen“, insbesondere im März/April 1933, häufig parallel zu größeren (Volks-)festen vollzogen wurden, da das öffentliche Interesse zu solchen Zeitpunkten auf die Festivitäten kanalisiert war. Jedoch ist auch in diesem Artikel sowie in Folgenden schon zu beobachten, dass die Maßnahmen der Öffentlichkeit keineswegs verborgen blieben, die Propaganda sie im Gegenteil immer selbstbewusster als Notwendigkeiten inszenierte – eine Legitimation schien kaum mehr notwendig. Das zeigt auch der folgende Artikel vom 6. Juli 1933:
Parallel dazu gab die Landskrone am 5. Juli bekannt, dass das Konzentrationslager wegen zu großen Andrangs nunmehr nicht mehr ohne Weiteres von Außenstehenden besucht werden dürfe. Ob diese Maßnahme merkbaren Einfluss auf den Alltag im Lager hatte, ist zu bezweifeln – die für die und von der Presse inszenierten Besichtigungen und Berichterstattungen spiegelten ohnehin nicht den tatsächlich erlebten Lageralltag der Insassen wider. Dennoch zeigt auch dieser Ausschnitt deutlich, dass das Konzentrationslager Osthofen in den rheinhessischen Gemeinden durchweg bekannt gewesen sein muss und auch Inhaftierte, die vorübergehend oder dauerhaft zurückkehrten, davon berichtet haben müssen.
„Die Staatspressestelle teilt mit: Da das hessische Konzentrationslager in Osthofen in der letzten Zeit von Neugierigen überlaufen worden ist, durch deren Führung im Lager die Lagerwache übermäßig in Anspruch genommen wurde, wird bekannt gegeben, daß die Besichtigung des Lagers in Zukunft nur noch mit der Genehmigung des Staatskommissars für das Polizeiwesen zulässig ist.“
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 05. Juli 1933
Fazit
„Die Tage des 53. Rheinhessischen Gauturnfestes sind vorüber, Tage der Arbeit am Volkswohl und Vaterland waren es gewesen. Oftmals wird noch mancher daran zurückdenken an die schönen Stunden in Nackenheim. Gut Heil Hitler!“
Mainzer Anzeiger. Ausgabe vom 05.07.1933.
Die Presseberichterstattung zum Nackenheimer Gauturnfest verdeutlicht, wenn auch äußerst perspektivgebunden, wie das nationalsozialistische Gedankengut den Sport in seinen kleinsten Einheiten zu durchdringen versuchte und auch in vielen Bereichen erfolgreich durchdrang.
Weiterhin wird nicht daran gezweifelt, dass sehr viele Nackenheimer:innen und Rheinhess:innen an diesem Fest in irgendeiner Form partizipierten, ob als stille oder laute Zuschauer:innen, ob mit Zustimmung, Mitwirkung oder Abneigung. Die Festlichkeiten, die auch im Hinblick auf ihre Außenwirkung ganz unter der Hakenkreuzfahne standen, und der Ausnahmezustand in der Gemeinde wurden sicherlich von vielen Nackenheimer:innen aktiv miterlebt.
Ausblick
„Der Führer der D.T. erläßt folgenden Aufruf: Turner und Turnerinnen! Das Stuttgarter Turnfest ist das erste deutsche Turnfest, daß wir im Dritten Reich feiern. Da blicken tausend Augen gespannt und prüfend auf uns. Seht zu, daß wir durch Zucht und Ordnung, die jeder hält, das Bild einer starken und stolzen Turnerschaft bieten“.
Oppenheimer Landskrone. Ausgabe vom 18. Juli 1933.
Die TuS Nackenheim berichtet, dass sich der Vorstand nach dem Gauturnfest weitestgehend aufgelöst habe. Das Protokollbuch endet am 24. August 1933 mit dem Bericht über die „Gleichschaltung“. In diesem Zeitraum wird dieser Prozess in vielen Vereinen der Region vollzogen – vielleicht auch mitunter inspiriert durch die Massenwirksamkeit des Gauturnfestes. So geschah es beispielsweise auch Mitte/Ende Juli im Gesangverein „Frohsinn“ sowie in der Freiwilligen Sanitätskolonne des Roten Kreuzes, wie es die Landskrone berichtete. Ein Artikel aus dem September 1933 informiert außerdem über den Zusammenschluss der drei Nackenheimer Gesangvereine.
Das sportliche Vereinsleben in Nackenheim lag nicht brach, beim Deutschen Turnfest in Stuttgart war der TV Nackenheim mit zwei Fahnenabordnungen vertreten, auch die Nachbargemeinden hatten das Fest mit zahlreichen Besucher:innen aufgesucht. Die Weichen für eine tiefgehende Indoktrinierung und Verfügbarmachung des deutschen Sports für politische, ideologische und militärische Belange waren – im Großen wie im Kleinen – gestellt. Doch auch der einfache Sport- und Spielbetrieb in Stadt und Land ging weiter.
Weiterführende Literatur:
Braun, Harald: Geschichte des Turnens in Rheinhessen. Ein Beitrag zur wechselseitigen Beeinflussung von Politik und Turnen. Alzey 1990 (3).
Friedel, Mathias: Politische Presse und Parlamentarismus in Hessen. Vom Kaiserreich zum Land Hessen (1868/71-1946). Wiesbaden 2016.
Kaiser, Katharina/Maskow, Felix: Die Volksgemeinschaft bewegt sich. Das Neustadter Sportwesen im Nationalsozialismus, in: Raasch, Markus (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße im Nationalsozialismus. Münster 2020, S. 391-417.
Luh, Andreas: Auf dem Weg zu einem nationalsozialistischen Sportsystem. Von Vereinssport zum parteigebundenen Sport, in: Stadion 31/2, 2005, S.181-198.
Wahlig, Henry: „Die Verdrängung jüdischer Sportler aus dem öffentlichen Raum in NS-Deutschland“, in: von Reeken, Dietmar/Thießen, Malte (Hrsg.), „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis? Perspektiven und Forschungen vor Ort. Paderborn 2013, S.257-275.