Ein Beitrag von Schüler:innen der MSS11
I. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
„Er [der völkische Staat] hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet ist, [für] zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch umzusetzen.“
zit. n. Hitler, „Mein Kampf“. Eine kritische Edition, hrsg. v. Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Tölpel im Auftrag des IfZG München-Berlin 2016, S. 1031-1033.
Dies schrieb Adolf Hitler in seinem 1925 veröffentlichten Werk „Mein Kampf“. Knapp acht Jahre später setzte er seine Absichten in die Tat um. Am 14. Juli 1933 wurde das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” auf Beschluss der Reichsregierung verabschiedet, am 1. Januar 1934 trat es in Kraft. Dieses Gesetz hatte zur Folge, dass Erbkranke durch einen chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden konnten, wenn eine angeblich hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass ihr Nachwuchs an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden könnte.
Das Gesetz galt für Menschen, die von folgenden Krankheiten betroffen waren: Angeborener Schwachsinn (heute: geistige Behinderung), Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressiven) Irresein (heute: bipolare Störung), erbliche Fallsucht (heute: Epilepsie), erblichem Veitstanz (heute: Chorea Huntington), erblicher Blindheit und erblicher Taubheit. Doch auch bei Menschen mit körperlichen Missbildungen oder Alkoholabhängigkeit wurde der Eingriff vollzogen.
Berechtigt, einen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen, waren die Betroffenen selbst, Vormunde und Pfleger, Amtsärzte sowie Leiter von Heil-, Pflege- oder Strafanstalten. Dazu benötigt wurde ein ärztliches Gutachten. Die Entscheidung, welche der Anträge gewährt wurden, lag bei den Erbgesundheitsgerichten. Beschwerde gegen das Urteil einzureichen war zwar möglich, verzögerte den Prozess allerdings meist nur. Sobald der Beschluss jedoch rechtskräftig war, wurde der Eingriff von Ärzten in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt. Oft wurde der Eingriff gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt, bei Verweigerung griff daher die Polizei ein. Infolge dieses Beschlusses wurden circa 400 000 Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus zwangssterilisiert. Von diesen starben bis zu 5000 an den Folgen des Eingriffs.
Das Prinzip der “Eugenik”, im Deutschen auch als Erbgesundheitslehre bezeichnet, besteht in der Annahme, dass eine angebliche „Minderwertigkeit“ der menschlichen DNS bestehe und diese aufgrund von „unkontrollierter Fortsetzung“ und „Rassenmischung“ zu Stande komme. Um dem entgegenzuwirken, sollten sogenannte “eugenische Maßnahmen” zur Verbesserung des Erbgutes eingeführt werden. Darunter verstand man die Verweigerung einer Heiratserlaubnis für Menschen, die nach Ansicht des Staates keine ‘moralischen und intellektuellen Fähigkeiten’ hätten, einen ‘sanften Tod’ für Kinder, die körperlich behindert oder nicht kräftig genug waren. Auch das Abtreiben von Kindern war eine Maßnahme.
Unter Adolf Hitler sollte sich dann durch positive und negative Auslese ein deutscher „Volkskörper“ entwickeln, der ausschließlich aus Mitgliedern der „arischen Rasse“, also den „Deutschblütigen und Artverwandten“ bestand. Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten wurde in Erbkarten der „Erbwert“ der gesamten deutschen Bevölkerung dokumentiert. Unter anderem wurden hier (Erb-)Krankheiten, schulische Leistungen, und das Vorkommen (angeblich) „hochwertiger“ und „minderwertiger“ Eigenschaften notiert. Anschließend stellte ein Amtsarzt die „erbbiologische“ und soziale Hauptdiagnose und entschied davon ausgehend, ob eine Person zur „positiven Auslese“ oder zur „negativen Auslese“ zählte; eine erste, „rassenhygienische Selektion“.
Quellen:
- Haus des Erinnerns, Ausstellung “Euthanasie” (https://www.haus-des-erinnerns-mainz.de/index.php/projekte-ausstellungen/ausstellung/ | zuletzt aufgerufen am 29.09.2021)
- Arbeitsgemeinschaft Bund der “Euthanasie”-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Artikel Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (Erbgesundheitsgesetz)
https://www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/themen/gesetz-zur- verhuetung-erbkranken-nachwuchses-vom-14-juli-1933-erbgesundheitsgesetz/ |zuletzt aufgerufen am 03.10.2021)
II. Das Leben der Henriette Klein
Henriette Klein wurde am 5. Juni 1907 in Nackenheim geboren und wuchs als katholische Sinteza in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges in Deutschland auf.
Ihre Kindheit verbrachte sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einem Wohnwagen, in dem sie oft umherreisten. In ihrer Jugend lebte sie für ein Jahr in dem Monikaheim in Frankfurt am Main, aus dem sie mit siebzehn Jahren ausriss, um mit ihrem späteren Ehemann Gustav Adolf Klein zusammenzuziehen. Sie starb zwischen dem 5. und 10. April 1944 in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.
III. Das Zwangssterilisationsverfahren Henriette Kleins
Während der NS-Zeit wurde die Zwangssterilisierung als eine Möglichkeit der systematischen Unterdrückung und Vernichtung von Minderheiten oft in Betracht gezogen. Dabei wurden Mitglieder von Minderheiten meist mit einer angeblichen erblichen Krankheit diagnostiziert, die angeblich eine Unfruchtbarmachung forderte, bei der die betreffende Person kein Mitspracherecht hatte, wie in dem Fall der Henriette Klein. Aufgrund ihres angeblich „angeborenen Schwachsinns“ wurde im Jahr 1937 von der NS-Regierung ein Antrag auf ihre Zwangssterilisierung gestellt.
Begründet wurde diese Diagnose durch ihr geringes Schul- und Lebenswissen und ihre schwerfällige Urteilsfähigkeit. Auch sei das geringe Wissen auf den mangelhaften Schulbesuch zurückzuführen, es hätte sich aber angeblich im späteren Alter das Bestreben, ihr Wissen zu erweitern, bilden müssen. Da dies nicht der Fall war, wurde der angeborene Schwachsinn mit der Begründung, dass „bei Vollsinnigkeit aber später das Bestreben zu Tage getreten sein [würde], das Wissen zu erwerben und zu erweitern“, als einzige Erklärung ihres fehlenden Wissens in Betracht gezogen. Ihre „rassisch bedingten groben Charakterfehler“, so heißt es in der Akte, trugen vermeintlich zu ihrem Verhalten bei.
Der Antrag auf die Unfruchtbarmachung wurde am 29.04.1937 vom Leiter der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ für die Vororte Wiesbadens aufgrund von „angeborenem Schwachsinns“ gestellt. Es diente als Antwort auf ein ärztliches Gutachten aus dem Jahr 1933. Zur Zeit des Verfahrens im Jahr 1937 hatte Henriette Klein bereits vier Kinder mit ihrem Ehemann und war schwanger mit einem fünften Kind. Als Nachweis ihrer angeblichen geistigen Krankheit, wurde ein Fragebogen mit Angaben über ihre Vorgeschichte beigelegt. Der Fragebogen beinhaltete beispielsweise die Information, dass in ihrer Familie keine körperlichen oder geistigen Krankheiten nachzuweisen sind, aber auch, dass ihr Vater drei aufeinanderfolgende Beziehungen führte und Henriette Klein, wegen eines Diebstahls zusammen mit ihrem Bruder zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Außerdem wird erwähnt, dass sie wegen Bettelns und Hausierens im Monikaheim wohnte und sie bereits drei Kinder hatte, als „sie endlich getraut wurde“. Besonders auffällig ist die Wortwahl „angeblich“ in Aussagen wie, sie führte einen „angeblich sauberen Haushalt“ oder sie sei „sexuell angeblich nicht auffällig“.
Zudem musste Henriette Klein einen Intelligenzprüfungsbogen ausfüllen, der bestimmen sollte, ob die Diagnose gerechtfertigt war. Dieser beinhaltete Fragen zu ihrer Urteilsfähigkeit, ihrem Schulwissen, Allgemeinwissen, Berufsfragen und Rechenaufgaben. Aufgrund ihrer Antworten wurde sie mit mangelndem Wissen eingestuft. Fragen, die als „Allgemeines Lebenswissen“ eingestuft wurden und die sie falsch beantwortete, beinhalteten unter anderem Wissen über die NS-Regierung, die NS-Ideologie und über Hitler selbst. Dadurch wurde ihre Intelligenz indirekt auch durch ihre politische Einstellung und ihr Wissen über den Nationalsozialismus bestimmt.
Am 22. Juli 1937 wurde der Antrag auf eine Zwangssterilisierung zurückgewiesen, nachdem sich das Erbgesundheitsgericht Wiesbaden der Annahme des „angeborenen Schwachsinns“ nicht anschloss. Ihr mangelndes Schulwissen sei vielmehr auf ihre Umstände, die ihr einen regelmäßigen Schulbesuch nicht erlaubten, als auf eine erbliche Krankheit zurückzuführen.
Nachdem sie diesen Prozess gewann, wurde sie dennoch sieben Jahre später deportiert und zwischen dem 5. und 10. April 1944 in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im Alter von 36 Jahren ermordet.
IV. Aktenauszüge aus dem Zwangssterilisationsverfahren Henriette Kleins
Zwei Gedenkkonzepte, die die Erinnerung an Henriette Klein im öffentlichen Raum verankern möchten, finden sich unter „Leerstellen“.
Quelle:
- HHStAW, 473/4, 398 (Akte zum Zwangssterilisationsverfahren Henriette Kleins)
- Dokumente der „Arolsen Archives“ zum Tod Henriette Kleins im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz