Verfolgung

Ein Beitrag von Lehrer:innen des Gymnasiums Nackenheim

Antisemitismus vor 1933

Auszug aus einen Aufsatz des Historikers Elmar Rettinger zur Situation der Jüdinnen und Juden in Mainz und Umgebung Ende des 19. Jahrhunderts

Nachdem der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung der 50er und 60er Jahre der 19. Jahrhunderts zu einer Beruhigung geführt hatte, war das Ende des Jahrhunderts vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression von 1874-79 von einem erneuten Aufflammen der Judenfeindschaft geprägt. Bestimmten vorwiegend religiöse und wirtschaftliche Motive die traditionelle Judenfeindschaft, war der „moderne Antisemitismus“ (…) anders strukturiert. Er bezog die Ideen des Nationalismus und Rassismus in die Judenfeindschaft mit ein. (…) Die Wurzeln dieser neuen Feindschaft, wie Aggression gegen eine nur teilweise integrierte Minderheit, wirtschaftliche Gegensätze aufgrund der den Juden aufgezwungenen Sonderrolle und religiöse Unterschiede, reichen allerdings weit in die Vergangenheit zurück. (…) Ein Beispiel ist die antisemitische Bewegung um Otto Böckel in Hessen, deren programmatischer Kernpunkt die Ausbeutung der Bauern durch die Juden war. Böckels „Deutsch-soziale Partei“ erhielt bei den Reichstagswahlen von 1893 im Wahlkreis Mainz-Oppenheim lediglich 270, d.h. 1,3% von insgesamt 21.699 abgegebenen gültigen Stimmen. Bei der Reichstagswahl 1896 kandidierte im Wahlkreis Mainz eine eigener antisemitischer Kandidat, der Weingutsbesitzer Michael Wolf aus Stadecken. Wolf erhielt 864 Stimmen, davon immerhin 566 aus kleinen Dörfern im Kreis. Antisemitische Gruppen hatten jedoch in der Öffentlichkeit ein größeres Echo als ihre schwache Stellung in den Parlamenten vermuten ließe. Der Antisemitismus war in allen Gesellschaftsschichten zu finden, die eigentlichen Träger der Bewegung waren aber die Bevölkerungsgruppen, an denen der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend vorbeigegangen war, d.h. der Mittelstand und die Bauern auf dem Lande. (…) Der Judenhass Ende des 19. Jahrhunderts (…) erzeugte auch „ganz konkrete Bilder, Sentenzen und Schlagworte“, die im Volksmunde weiterlebten.

zit. n. Rettinger, Elmar: Juden in der Stadt Mainz und Umgebung, in: Juden in Nieder-Olm. Hrsg. von Peter Weisrock (Nieder-Olmer Dokumentationen 1), Nieder-Olm 1988 (2. Auflage 2000), siehe auch: https://www.regionalgeschichte.net/fileadmin/Superportal/Bibliothek/Autoren/Rettinger/LandjudenMainzElmar.pdf


Ausgrenzung und Diskriminierung von Nackenheimer:innen

Auszug aus einer unveröffentlichten Forschungsarbeit Henri Bicks zur Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Nackenheim.

Dennoch machen die politisch und ideologisch motivierten Morde an Nackenheimern deutlich, dass die Herrschaft der Nationalsozialisten auch in der Gemeinde bis zum Äußersten ging und trotz der festgestellten relativ zurückhaltenden Verfolgungsmaßnahmen gegenüber einem Gros der Bevölkerung schwerste Folgen für einzelne Bürger, deren Familien und das gesamte Dorf hatte, in dem quasi alle miteinander bekannt waren. Die Zurückhaltung der Nationalsozialisten hatte nicht nur in diesen Fällen ihre Grenzen, sondern auch beim Umgang mit den sieben Nackenheimer Juden, von denen zwei, Heinrich und Selma Wolff, 1942 deportiert und ermordet wurden. Bereits im Juli 1933 war Heinrich Wolff für kurze Zeit im Konzentrationslager Osthofen inhaftiert und auch danach waren die Nackenheimer Juden, das heißt der Landproduktehändler Wolff mit seiner Frau Selma und den Söhnen Herbert und Helmut sowie der Hausierer Luvi Heumann mit Frau Maria und [ihrer Tochter], zahlreichen Repressionen ausgesetzt. Die Nationalsozialisten warfen nachts mit Steinen auf das Haus der Wolffs und als sie mit einem Lkw Heumanns Schaufenster zerstörten und der Familie zu Leibe rücken wollten, musste diese zur benachbarten Familie […] flüchten, die sie versteckte, bis die Nationalsozialisten wieder abgerückt waren. Nicht nur mittels Gewaltmaßnahmen und gesellschaftlicher Ausgrenzung wie dem Rauswurf Wolffs aus Feuerwehr und Turnverein, dem Hausverbot für Luvi Heumann in seinem Stammlokal […], sondern auch wirtschaftlich versuchten die Nationalsozialisten, die Nackenheimer Juden zu treffen. So wurde der Boykott ihrer Geschäfte propagiert und Bürgermeister Otto sprach sich gegenüber dem Kreisamt mehrfach dafür aus, für den Geschäftsbetrieb notwendige Genehmigungen zu versagen, da Heumann sein Geschäft dazu nutzen würde, „um die Regierung durch seine spöttischen Redensarten zu denunzieren.“ Auch Wolff sei „die Betreibung jeglichen Erwerbes [zu untersagen], damit endlich unsere Einwohner von solchen fremden P* befreit werden und der Jude von dem leben kann, was er dem deutschen Volke abgeramscht hat.“ Dennoch kam das Kreisamt diesen Aufforderungen der Bürgermeisterei, die auf einen tiefen Judenhass einiger Nationalsozialisten schließen lassen, nicht nach und entzog erst 1937 Heumann den Wandergewerbeschein. Als Otto sich daraufhin beschwerte, weil Heumann immer noch hausieren ging, ergriff man in Oppenheim […] Partei und erklärte dem ahnungslosen Otto und der Bodenheimer Gendarmerie, dass Heumann auch ohne Wandergewerbeschein in Nackenheim hausieren dürfe. So offenbaren sich auch hier Dissonanzen im nationalsozialistischen Staatsapparat.

zit. n. Bick, Henri: Die Gemeinde Nackenheim im „Dritten Reich“, unveröffentlichte Bachelorarbeit, eingereicht am Historischen Seminar der JGU Mainz, 2014, S. 36-37. (Die Tilgungen wurden nachträglich vorgenommen).
Herausdrängung aus dem wirtschaftlichen Leben
Quelle: LA Sp. Best. U199, 20 (selbstständig vorgenommene Tilgung).

Eine Chronologie antisemitischer Maßnahmen gegen die Familie Wolff findet sich hier.

Quelle: LA Sp. Best. U199, 19

Eine Chronologie antisemitischer Maßnahmen gegen die Familie Heumann findet sich hier.

Systematische Überwachung der jüdischen Bevölkerung
In verschiedenen Listen wurden Umzüge, Aus- und Einwanderungen von Jüdinnen und Juden akribisch gelistet. Diese Unterlagen wurden später erstellt, um Deportationslisten zu erstellen. Unter den 211 im Jahre 1938 in die USA ausgewanderten Jüdinnen und Juden befanden sich neben der Familie Heumann aus Nackenheim auch die gebürtigen Nackenheimer Herbert Wolff und Moses und Rosa Hirschberg. (Quelle: Stadtarchiv Mainz, NL Oppenheim Nr. 49,6)
Kennkartenpflicht

Die Kennkarten vieler Mainzer:innen sind erhalten und wurden von Peter Honigmann ediert und über das Zentralarchiv zur Erforschung der Juden in Deutschland 2015 online veröffentlicht.

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Heinrich Wolff

Selma Wolff, geb. Hecht

Gustav Sender

Betty Sender, geb. Wolff

Ruth Feiner

Norbert Heumann

Quelle: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland; Archivaliensammlung Frankfurt: Abteilung IV: Kennkarten, Mainz 1939.

Antisemitische Propaganda in der regionalen Presse am Beispiel der „Oppenheimer Landskrone“
(Landskrone, Oppenheimer Kreisblatt, amtliches Anzeigenblatt)
Antisemitische Anzeige in der „Oppenheimer Landskrone“ vom 01. April 1933
Ausschnitt einer Meldung aus der „Oppenheimer Landskrone“ vom 31. Oktober 1938
Beschönigende und antisemitische Berichterstattung der „Oppenheimer Landskrone“ vom 11. November 1938 zu den Novemberpogromen

Konsequenzen

Kurz vor den Novemberpogromen gelang der Familie Heumann im Oktober 1938 die Flucht aus Nackenheim in die USA. Wenige Wochen später titelte die „Oppenheimer Landskrone“, Nackenheim sei „judenfrei“. Tatsächlich waren jedoch zahlreiche aus Nackenheim stammende Familien in den vergangenen Jahren nach Mainz gezogen, um dort in der städtischen Anonymität dem Antisemitismus auf dem Land zu entfliehen. Zu den vor 1938 nach Mainz gezogenen Familien gehörte die Familie Wolff, das Ehepaar Sender, das 1938 gemeinsam mit den Heumanns geflohene Ehepaar Hirschberg sowie das Ehepaar Amalie und Josef Feiner mit ihrer Tochter Ruth. Auch Norbert Heumann soll zeitweise in Nackenheim gelebt haben.

Wohnorte gebürtiger Nackenheimer:innen in Mainz (1938)

Den aufgeführten Personen gelang trotz teilweise intensiver Bemühungen nach dem allgemeinen Ausreiseverbot von 1941 nicht mehr die Flucht aus dem Deutschen Reich. Häufig mussten sie innerhalb von Mainz in sogenannte „Judenhäuser“ ziehen, so etwa das Ehepaar Wolff in Rheinallee und später in die Eleonorenstraße nach Mainz-Kastel oder das Ehepaar Sender in die Kaiserstraße. Am 20. März 1942 wurden das Ehepaar Wolff, das Ehepaar Sender und die Familie Feiner in die Turnhalle der Feldbergschule nach Mainz verbracht, von wo aus sie mit 460 weiteren Mainzer:innen über Darmstadt in das Ghetto Piaski deportiert wurden.

Die Söhne der Wolffs flüchteten bereits 1937 und 1938 in die USA und pflegten mit ihren Eltern regen Briefkontakt. Herbert Wolff kehrte nach Kriegsende als Soldat der US-Army nach Nackenheim zurück. In einem Brief an seinen Bruder Helmut vom 30. Juli 1945 berichtet er von den Erzählungen einer Nackenheimer Bekannten (Katharina Trüdot) über ihren letzten Besuch des Ehepaares Wolff im März 1942:

Es scheint, dass unsere liebe Mutter sehr an Asthma litt und dass der liebe Vater stark abgenommen hatte. Sie haben unsere Bemühungen, sie aus Deutschland herauszuholen, sehr gelobt und sie haben die Hoffnung, uns eines Tages wiederzusehen nie aufgegeben. Wie du weißt, mussten sie zuerst in ein Judenhaus in der Rheinallee umziehen und dann nach Kastel in die Eleonorenstraße, wo sie nur ein kleines Zimmer hatten und eine Küche zusammen mit anderen Personen, die jüdisch waren, aber vorgaben, die englische Staatsangehörigkeit zu besitzen. (…) Wie ich schon sagte, Frl. Trito besuchte sie dort, gerade nachdem sie vor ein paar Tagen dorthin umgezogen waren. Sie hatten noch nicht ausgepackt, da sie schon eine Ahnung hatten, was passieren würde, denn zuvor wurden bereits andere Leute aus Mainz deportiert. Als Frl. Trito drei Tage später wiederkam, waren sie schon weg und ihr Zimmer war von der Gestapo versiegelt worden. Diese englische Frau erzählte Frl. Trito, dass die Gestapo sie einen Tag zuvor mitgenommen hatten, nachdem sie dies ein paar Stunden vorher angekündigt hatten. Unsere Eltern seien als wahre Helden gegangen und Mutter habe gesagt: „Vielleicht komme ich jetzt wohin, wo ich für andere kochen kann und werde es vielleicht wieder etwas bekommen“. Und Vater sagte: „Ich werde aushalten, ich muss meine Buwe noch einmal sehen“. Das war das letzte Mal, dass irgendjemand in Deutschland von ihnen gehört hat.

zit. n. Wolff, Raymond; Graf, Martina; Graf, Hans-Dieter; Berkessel, Hans: Schreie auf Papier. Oppenheim, 2021.
Auszug aus einer Deportationsliste aus Mainz, die im Stadtarchiv Mainz erhalten ist. (Quelle: Stadtarchiv Mainz, NL Oppenheim Nr. 51, 21c). Online sind die Deportationslisten ebenfalls einsehbar über: www.statistik-des-holocaust.de