Ein Beitrag von Lehrer:innen des Gymnasiums Nackenheim
I. Demographische Entwicklungen im 19. Jahrhundert
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gehörte Nackenheim zunächst zum Großherzogtum Nassau, ab 1867 dann zur Provinz Hessen-Nassau. In Nassau und Rheinhessen wohnte während des 19. Jahrhunderts ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung auf dem Land, das heißt in Dörfern oder Kleinstädten. Jüdische Gemeinden organisierten sich bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts, erst ab 1848 wurde jedoch die formelle Gleichstellung aller Religionen und somit auch von Jüdinnen und Juden erlassen.
Rheinhessen war in 4 Rabbinate eingeteilt, nämlich Mainz, Worms, Alzey und Bingen. Dabei hatte der Alzeyer Rabbiner den flächenmäßig weitaus größten Bezirk zu versorgen; er umfasste um die Jahre 1875 die ländlichen Kreise Oppenheim und Alzey […]. Diese verteilten sich auf 39 Dörfer, welche zu 29 jüdischen Gemeinden zusammengefasst waren. […] Die jüdischen Kinder […] aus Bodenheim und Nackenheim gingen in Mainzer Schulen. Erwähnenswert ist außerdem, dass nur 2 der 29 Gemeinden keine eigene Synagoge besassen […], und dass im Rabbinatsbezirk Alzey 19 israelitische Vereine bestanden, bis auf einen sämtlich Wohltätigkeit- und Krankenvereine.
zit. n. Dieter Hoffmann: „…wir sind doch Deutsche“. Zu Geschichte und Schicksal der Landjuden in Rheinhessen. Alzey 1992, S. 82.
Nach 1918 bestand in Rheinhessen der „Landesverband der israelitischen Religionsgemeinden“, der im Jahr 1928 insgesamt circa 15.000 Mitglieder aus rund 132 Gemeinden zählte.
Wenige Zahlen zur Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Nackenheim können einem Beitrag Wilhelm Kleins der Nackenheimer heimatkundlichen Schriftenreihe von 1951 entnommen werden. Auch wenn das Jahr 1925 hier ausgeklammert wird ist klar ersichtlich, dass bereits seit 1828 jüdische Familien in Nackenheim wohnten.
II. Die jüdische Gemeinde Bodenheim-Nackenheim
Obwohl mit der Jahrhundertwende auch in Rheinhessen eine „jüdische Landflucht“ zu beobachten war, bestand die Gemeinde Bodenheim-Nackenheim bis in die 1930er Jahre und zählte um diese Zeit rund 40 Gemeindemitglieder. Rund 3/4 der Gemeindemitglieder wohnten in Bodenheim. Für Nackenheim wurden im Jahr 1927 im Verzeichnis der jüdischen Verbandsgemeinden 7 Gemeindemitglieder angegeben. Unter ihnen war sicher die Familie Wolff mit Heinrich, Selma und ihren Kindern Helmut und Herbert. Vermutlich zählte auch das Ehepaar Ludwig und Maria Heumann sowie Betty Wolff, die Schwester Heinrich Wolffs, hinzu. Auf Grund antisemitischer Verfolgungen und zunehmender Repressalien der NS-Diktatur zogen die Wolffs 1937 nach Mainz. Die Familie Heumann flüchtete im Oktober 1938 mit ihrer Tochter Ruth in die USA. 1942 wurden die Wolffs und andere jüdische Familien der Umgebung aus Mainz nach Piaski deportiert, wo sie später ermordet wurden.
Neben der Synagoge in Bodenheim gab es dort auch einen 1883 eröffneten, jüdischen Friedhof, der in der NS-Zeit geschändet wurde und heute auf Initiative des ehemaligen Verbandsbürgermeisters Horst Kasper wiederaufgebaut ist. Der jüdische Friedhof in Bodenheim zählt 40 Grabsteine.
Das Gebäude der 1835 erbauten Synagoge wurde in den 1960er Jahren in Bodenheim abgerissen, heute erinnert dort eine Gedenktafel an den Erinnerungsort jüdischen Lebens.
III. Jüdisches Leben heute und (fehlende) Erinnerung
Nach 1945 erfolgte kein Neuaufbau der jüdischen Gemeinde Bodenheim-Nackenheim. Heute finden sich mit dem jüdischen Friedhof, Stolpersteinen und der Gedenktafel der Synagoge nur in Bodenheim öffentliche Spuren der Erinnerung. In Nackenheim hingegen sind viele jüdische Spuren der Ortsgeschichte (noch) nicht aufgearbeitet.
Eine 2010 eingeweihte, neue Synagoge sowie ein reges jüdisches Gemeindeleben mit über 1000 Gemeindemitgliedern finden sich im rund 20 Kilometer entfernten Mainz. Seit 2021 gehören die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz als erstes jüdisches Welterbe Deutschlands zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Weiterführende Literatur:
- Höpp, Wolfgang: Leben mit dem Davidstern – Jüdisches Leben in Rheinhessen früher und heute. Online-Publikation erschienen auf regionalgeschichte.net (19.11.2021).
- Kasper, Horst (Hrsg.): Der jüdische Friedhof in Bodenheim und Schicksale der ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürger von Bodenheim und Nackenheim: zur jüdischen Geschichte in Bodenheim und gegen das Vergessen. Bodenheim 2004.
- Reuter, Ursula: Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande; Beiheft VIII/8. Bonn 2007.
Wir danken Herrn Horst Kasper (Bodenheim) für die Unterstützung bei der Recherche zu diesem Beitrag.